Ein Jahr Brasilien beim Projekt „ Der kleine Nazareno“

Im Rahmen eines Sabbatjahres hatte ich mich für ein Jahr vom Polizeidienst befreien lassen, um hauptsächlich ehrenamtlich mit Straßenkindern in dem vor 11 Jahren, von Bernd Rosemeyer gegründeten Hilfsprojekt "Der kleine Nazareno". in Brasilien zu arbeiten.

So kam ich in meinen ersten drei Wochen nach Fortaleza, in den Nordosten von Brasilien, ins Kinderdorf des „kleinen Nazareno“. Da ich 2 Jahre zuvor das Projekt schon einmal besucht hatte, war es ein einfacher Start für mich. Die Kinder kannte ich schon und auch die Umgebung war nicht mehr neu. So schlossen mich die Kinder sofort in die Arme und führten mich herum. Das Projekt bietet den Kindern ein neues zu Hause, Essen, Freizeitaktivitäten, Schulbildung und Geborgenheit.

Die Arbeit im Nazarenodorf in Fortaleza besteht hauptsächlich daraus, die Bibliothek zu führen, die Kinder zur Schule zu fahren, Freizeitaktivitäten zu gestallten, Nachhilfeunterricht zu geben, die erste ärztliche Versorgung zu übernehmen und sie einfach nur im Arm zu halten, denn in Sachen „Liebe“ haben sie einen starken Nachholbedarf.

Der zweite Arbeitsbereich besteht daraus, sich auf der Straße mit den Straßenkindern zu beschäftigen, um deren Vertrauen zu gewinnen. Dadurch besteht die Möglichkeit, sie evtl. später von der Strasse zu holen. Oft spielten wir Memory, puzzelten oder malten Bilder mit ihnen. Es kam auch vor, dass die Kinder vom geschnüffelten Klebstoff so unzurechnungsfähig waren, dass sie selbst ein 6-teiliges Puzzle nicht zusammensetzen konnten. Das Alter der Kinder ist meist zwischen 6 und 17 Jahren, wobei vom Kinderdorf nur Kinder bis zu 12 Jahren aufgenommen werden, da die Kinder mit zunehmendem Alter immer stärker den Drogen verfallen und dieses somit das Wegholen von der Straße erschwert.

Jedes Kind hat seine eigene Geschichte für das Leben auf der Straße. Oft haben sie zu Hause Hunger erleiden müssen oder wurden verprügelt. Teilweise wurden die Eltern erschossen, sind aus anderen Gründen gestorben oder haben die Kinder alleine gelassen. Oft sind die Eltern alkoholkrank und das Haus ist viel zu klein für die ganze Familie. Von einem Jungen weiß ich, dass er einmal ein Fernsehgerät gestohlen und auf Grund dessen eine Morddrohung vom Eigentümer erhalten hat. Da die Morddrohung sehr ernst zu nehmen war, konnte er aus Angst nicht mehr zurück zur Familie und ist auf der Strasse geblieben. Selbst seine Familie wollte ihn nicht mehr aufnehmen aus Angst vor einer Schiesserei.

In den „Favelas“, den so genannten Slums von Brasilien, ist es keine Seltenheit, dass sich die Familie auf ca. 6 qm ein aus Brettern, Blech und Müllresten zusammengebautes Haus teilt. Eine Toilette gibt es nicht und als Küche dient eine kleine Feuerstelle. Ich habe gesehen, wie sich 4 Kinder ein Bett teilten, 3 in einer Hängematte schliefen und sich die Eltern auf dem Boden ihren Schlafplatz suchten. Durch das feuchte Klima, sowie dem oft nebenan liegendem Abwasserkanal, kommt es zu einem stark schimmligen, üblen und dreckigen Geruch. Wie man überhaupt in solchen „Häusern“ wohnen kann, ist mir unbegreiflich.
Den Klebstoff schnüffeln die Kinder, um das Hungergefühl zu stillen und das Elend zu vergessen. Auf der Straße sind sie ständigen Kämpfen mit anderen Kindern oder der Polizei ausgesetzt. Sie werden oft von Polizisten verprügelt, weil sie wie „Dreck“ auf der Straße behandelt werden.

„Es gibt aber auch ein paar nette Polizisten!“
(Aussage einiger Kinder)

Die damalige Straßenarbeiterin Iara, mit der ich dort zusammen gearbeitet habe, erzählte mir, dass sie bereits zweimal Anzeige gegen die „Prügel-Polizisten“ erstattet hat. Kurz danach bekam sie eine Morddrohung von der Polizei. Sie wollten verhindern, dass Iara weiterhin mit den Kindern arbeitet und dieses gelang ihnen auch. Iara stellte ihre Arbeit aus Angst erstmal ein. Mittlerweile arbeitet sie nicht mehr für den „Kleinen Nazareno“

Damals waren Iara und ich noch zusammen auf einem Reggae Konzert. Wir befanden uns in einer Menschenmenge vor dem Eingangsbereich. Auf einmal gingen Schüsse los und alle Leute liefen panisch auseinander. Um nicht zertrampelt zu werden, blieb ich einfach an einer Wand, direkt vor dem Eingangsbereich des Konzertes stehen. Kurz darauf sprangen ca. 20 schwer bewaffnete Polizisten aus Autos heraus und richteten ihre Waffen gegen alle sich noch vor Ort befindlichen Personen, u.a auch mich. Sie schrieen uns an und kamen immer weiter auf uns zu. (Nur doof, wenn man der Sprache noch nicht so mächtig ist). Ich hielt es für besser mich nicht zu bewegen, hielt meine Arme hoch und starrte den immer näher kommenden Polizisten an, der die Waffe auf mich gerichtet hatte und sehr aggressiv wirkte. Rechts neben mir versuchte auf einmal ein recht kleiner und magerer Mann wegzulaufen. Er wurde gleich zu Boden gebracht und von drei Polizisten gleichzeitig mit dem Schlagstock bearbeitet. Obwohl er sich nicht im Geringsten wehrte, sondern nur die Schutzhaltung auf dem Boden eingenommen hatte, hörten sie nicht auf, auf ihn einzuprügeln.

Vor mir kniete bereits ein anderer Mann, auf den ebenfalls eine Waffe gerichtet wurde. Die Polizisten schrieen immer noch wild durcheinander und wirkten sehr unkontrolliert. Plötzlich schubste mich jemand von der Seite und ich konnte mich schnell durch den Eingangsbereich drängen, wo mich dann ein Türsteher schnell hineinzog. Später traf ich Iara wieder. Sie sagte:“ guck…so schnell kann man hier tot sein!“
Wie ich später erfuhr ging es bei der Ausschreitung angeblich um irgendwelche Drogengeschäfte. Das Konzert konnten wir noch sehen, aber es wurde frühzeitig abgebrochen.

Nachdem meine Zeit in Fortaleza vorbei war, kam ich in das Kinderdorf nach Recife, wo ich zunächst für 6 Monate für den „Kleinen Nazareno“ arbeitete. Die Arbeit im Dorf war etwas flexibler. Eigentlich fiel hier alles an, vom Haare schneiden bis Englischunterricht über Häuser bemalen zum Kochen. Die Straßenarbeit war die selbe.

Nach den 6 Monaten flog ich nach Rio. Eigentlich wollte ich hier ebenfalls für Kinder arbeiten, aber aufgrund der starken Kriminalität war es mir nicht möglich. In Rio´s Favelas herrscht Krieg! Ich hatte mich einen Tag mit Sozialarbeitern des Projektes UERE verabredet und wollte mir ihre Arbeit in den Favelas ansehen. Da mein Bus im Stau stand, kam ich 10 Minuten zu spät und konnte die Mitfahrgelegenheit nicht nutzen. Am nächsten Tag rief ich erneut beim Projekt an um mich zu entschuldigen. Die Frau sagte zu mir: „ Sei mal ganz froh, dass du nicht mit warst! Wir hatten gestern eine große Schiesserei in der Favela mit 5 Toten und 9 Verletzten!“ Nach diesem Vorfall hörte ich auf nach Arbeit zu suchen.

Ich lernte eine Italienerin kennen, die für den Fernsehkanal der „Rocinha“ größten Favela Südamerikas arbeitete. Sie sagte mir, dass die Bewohner der Favela nicht wissen vor wem sie mehr Angst haben müssen, vor der Polizei oder den Drogenbanden. Letztendlich hätten sie wohl noch mehr Angst vor der Polizei, denn sie stürmen in die Favelas, schießen wild umher, klauen ihre Sachen und manchmal vergewaltigen sie sogar die Frauen.



Die Korruption ist ein großes Problem in Brasilien. Oft arbeiten Polizisten auf der Gegenseite um sich ihren Lohn aufzubessern. Oft wohnen die Polizisten selber in ärmlichen Gegenden gleich neben den Kriminellen und müssen schon, um zu überleben, auf der kriminellen Seite mit einsteigen. So ist zum Beispiel das Kopfgeld eines Polizisten in Rio auf 3000,- Dollar gesetzt, was bei einem Mindestlohn von 340,- Real (ca. 100,- Euro) eine ganze Menge ist.
Aber nichts desto trotz gibt es auch gute Polizisten. Ich bin nicht einmal Opfer von Korruption geworden, obwohl ich des Öfteren angehalten wurde. Der IPA- Ausweis scheint übrigens nicht großen Eindruck zu schinden. Die IPA ist im Allgemeinen sehr unbekannt in Brasilien.

Nachdem ich in Rio keine Arbeit gefunden hatte, besuchte ich unseren IPA-Freund Ataliba Campos, im Bundesstaat Parana, südwestlich von Brasilien. Ich wurde herzlich empfangen und gleich als „Familienmitglied“ aufgenommen. Er wohnt in einem kleinen brasilianischen Städtchen namens „Marechal Candido Rondon“, wo die Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Aber selbst er sagte mir, dass es schwer ist, bei der Polizei nicht korrupt zu sein. Er schätzt den Anteil der korrupten Beamten auf ca. 30 Prozent.

Mir wurden die Wachen der „Policia Militar“ und der „Policia Civil“ gezeigt und ich konnte feststellen, dass die Polizei technisch sehr schlecht ausgestattet ist. Abfragesysteme sind jetzt erst im Aufbaustadium.

Das Gehalt eines Polizisten ist je nach Bundesstaat unterschiedlich. Im Bundesstaat Paraná liegt das Anfangseinkommen der
„Policia Militar“ - so zu sagen der Schutzpolizei, bei ca. 800,- Real (ca. 240,- Euro)
„Policia Civil“ - Zivil Polizei, bei ca.1000,- Real und der (ca. 300,- Euro)
„Policia Federal“ – Kriminalpolizei, bei ca. 3000,- Real.( ca. 900,- Euro)
Wobei der Verdienst im Bundesstaat Pernambuco (Recife), im Nordosten Brasiliens vielleicht gerade mal die Hälfte beträgt.

Da Ataliba in der Nähe von Foz de Iguazu wohnt, wo sich die größten Wasserfälle der Welt befinden, hatte ich die Möglichkeit mit seinem Sohn einen Ausflug dort hin zu machen. Es ist unfassbar, wie viel Kraft dahinter sitzt. Ich konnte auch mit dem Hubschrauber die gewaltigen Ausmaße der Wasserfälle von oben genießen.

Nach meinem Aufenthalt bei Ataliba reiste ich erst noch durch Argentinien und Chile, bevor ich wieder zurück nach Recife flog, um noch weitere zwei Monate mit den Kindern zu verbringen.

Die Arbeit war für mich eine wichtige Erfahrung mit vielen traurigen Momenten und Erschrockenheit über die Lebensumstände. Wenn man eine alte Frau sieht, die auf einem stinkenden Müllhaufen einen halb abgegammelten Knochen mit Freude in die Hand nimmt und anfängt daran herumzuknabbern; wenn man kleine Kinder vor Hunger schreien hört und die Kinder zusammengekauert in einer dreckigen Straßenecke schlafen sieht, dann weiß man, dass das Leben, welches für uns so selbstverständlich erscheint, längst nicht selbstverständlich ist und dass wir froh sein können, auf einem anderen Fleck der Erde geboren worden zu sein.

Ich habe fast 9 Monate für den „ kleinen Nazareno“ gearbeitet. Dieses Projekt lebt fast ausschließlich von Spendengeldern und ich weiß, dass die Gelder auch wirklich zweckbestimmt verwendet werden. Ich werde auch weiterhin für den Nazareno arbeiten und in meinem Urlaub wieder zu den Kindern fahren. Wer sich für eine Patenschaft eines Kindes interessiert, mehr über das Projekt wissen, spenden oder evtl. aktiv mithelfen möchte, kann sich im Internet unter www.nazareno.de informieren, oder per Email unter sylvia@schoentaube.de
Bei einer Spende bitte als Verwendungszweck: Nazareno 110 Bremen
angeben.

Spendenkonto:

Volksbank Löningen eG
Der kleine Nazareno
Kto. Nr.: 8070500
BLZ: 28065061

Anbei Bilder







Favela in Recife - Häuser direkt am Abwasserkanal



Schlafendes Kind auf dem Boden



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